Zwei Wochen München

2020

9:30 Uhr: Der Wecker klingelt. Eigentlich klingelt er nicht, er spielt eine angenehme Melodie, die mich sanft aufwachen, den Wecker abstellen und gleich darauf wieder sanft einschlafen lässt.

10:00 Uhr: Der Wecker klingelt. Eigentlich klingelt er nicht, er… ach egal. Noch halb im Land der Träume nehme ich langsam meine Umgebung wahr. Ein Kunst-Leder-Sofa, auf dem ich in einem Schlafsack liege, nicht unglaublich komfortabel, aber es geht schon. Auf dem Boden liegen meine Hose und der rot-schwarze Pullover, meine einzigen beiden Kleidungsstücke in den letzten Wochen. Mir gegenüber lassen große, dreckige Fenster, etwas Licht in das kleine Büro fallen, ich sehe Schreibtische, einen iMac, jede Menge Kabel, eine Kommode einen kleinen Tisch und schlecht genutzten Stauraum. In einer Ecke leuchtet ein schwarz-weißes Schild mit der Aufschrift FINE EINS. „Himmel!“ denke ich „wann war ich gestern im Bett?“ Es muss mindestens 8 Uhr früh gewesen sein, eher später. Ich schäle mich aus meinem Schlafsack und wundere mich zum wiederholten Mal darüber, dass ich in einer solchen Umgebung Schlaf finden kann. Ich befinde mich in der Gabrielenstraße 4, München. Einem alten Heizungssanitär-Gebäude oder sowas in der Art. Das ganze Ding soll grundsaniert werden und um es bis dahin nicht leer stehen zu lassen, steht es jetzt Künstler*innen aller Disziplinen und ihren Projekten zur Verfügung. Rohre an der Decke und den Wänden, alle möglichen Hähne und Ventile; es ist nie ganz still in der Zwischennutzung, ein konstantes Rauschen, Klicken und Brummen erfüllt die Luft.

Frische Unterwäsche, Socken und T-Shirts finde ich in einem Rucksack um die Ecke, ich laufe in den großen Raum, T-Shirts habe ich nicht genug dabei, ich werde wohl mit dem von gestern noch einmal vorliebnehmen müssen. Glücklicherweise finde ich weiter Unten wenigstens noch eine ungebrauchte Unterhose und ein frisches Paar Socken; ich ziehe mich um.
Endlich fühle ich mich bereit den Blick zu heben und in den Raum zu schauen. Augen- scheinlich habe ich dem Aufräumen nach der getanen Arbeit der letzten Nacht nicht die notwendige Sorgfalt anheim kommen lassen, um nicht zu sagen, es sieht aus wie Sau! Alle vier Tische sind vollgestellt, auf dem Boden liegen Schnittreste von Karton und Pa- pierfetzten, in einer Ecke Sägespäne und Holz, schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle und inmitten von alledem steht es: das Werk der letzten Nacht. Eine senkrecht auf einer Platte montierte Holzwand mit eingelassenem Fenster, verkleidet mit einer super aufwändig anzufertigenden, auf alt getrimmten Tapete. Ich war stolz und der Meinung, dass diese Kulisse, „warmes Zimmer“, nun fertig sei…

Das warme Zimmer war ein Teil einer Szenerie, die ich für die Filmproduktion „Tee Hilft Immer“ gebaut habe. Die Produktion ist der erste abendfüllende Spielfilm von ‚Fine Film‘, eine Truppe von jungen Schauspielern, Kamera- und Audio-Freaks, Schrei- bern usw. Allen voran Regisseur Shayan Hekmat, ein langjähriger Freund aus Theater- zeiten. Unser Trio vor Ort in München wurde ergänzt durch Leon, ebenfalls ein alter Bekannter und sowohl Schauspieler, als auch Filmemacher und helfende Hand bei handwerklichen Arbeiten. Ich war mit gestalterischen Fragen und dem Bauen der Animations-Kulissen betraut.
1-2 Wochen vorher: Mein Handy klingelte, ich meldete mich. Er sei jetzt da, hieß es, ob ich rauskommen könnte, er sei sich nicht ganz sicher, welches Haus meines sei. Ich ging raus, es war nicht schwer, Shayan zu finden: der riesige, dunkelblaue Ford-Transit nahm mir fast die komplette Sicht die Straße hinunter, obwohl er noch gut 20 Meter entfernt stand. Er hatte vor dem falschen Haus gehalten.

3 Stunden später: Wir hatten alles eingeladen, es endlich geschafft loszufahren und waren auf dem Weg in Richtung München.

9 Stunden später, 1 Uhr morgens: Wir waren in München angekommen. Zum ersten Mal sah ich die Zwischennutzung, unseren großen Raum, Fine Eins. Wir ladeten alles aus. Modelle, Holzplatten, und was sonst noch so anfiel, alles wurde in den dritten Stock geschleppt. Shayan und ich liefen unzählige Male die Treppen hoch und runter. Bei einem der letzten Läufe viel mir eine Unstimmigkeit auf, „Shayan?“ rief ich durchs Treppenhaus, „Kann es sein, dass wir die Kiste aus meinem Zimmer nicht mitgenom- men haben?“. Er darauf mit ruhiger Stimme: „Meinst du die, in der fast das komplette Material und all unser Werkzeug ist? Die von der du meintest, die dürften wir auf kei- nen Fall vergessen?“ „Genau die.“ antwortete ich und eine ungute Vorahnung machte sich breit. „Ja, kann sein“ kam seine Antwort von oben. Hm, Schlecht… Da standen wir also, mit Modellen, Kulissen und ohne jedes Material oder Werkzeug. Was für ein Start!

Die ersten Tage in München verwendeten wir gezwungenermaßen auf Planung und Vorbereitung. Wir hatten uns cleverer Weise dazu entschieden nicht noch einmal nach Alfter zurück zu fahren, ich hatte vielmehr eine Kommilitonin beauftragt, die benötigte Kiste, per Post zu schicken. Von Montag bis Freitag wurde nur geplant: finale Fragen der Gestaltung mussten erörtert, Materiallisten geschrieben und Abläufe durchdacht werden. Das ewige rumgeplane, ging mir erwartungsgemäß ziemlich auf den Keks. An- statt den ganzen Tag mit Besprechungen und Listen schreiben zu vergeuden, wollte ich Berge von Holz, Kisten voller Werkzeuge, schlaflose Nächte voll guter Musik – ich sollte sie bekommen.

Samstag, 10:30 Uhr: „Bonjour monsieur, j‘ai un présente pour vous.“ begrüßte ich mit meinen erbärmlichen Französischkenntnissen den soeben durch die Tür tretenden Shayan. Das angekündigte Geschenk bestand in dem Baum, liebevoll „Ische“ genannt, den ich letzte Nacht noch bemalt hatte. Er hatte viele Rillen und knorrigen Äste, ihn
zu bemalen war ein kniffliges und zeitraubendes Unterfangen, hellgrau, so hoffte ich, stand er jetzt auf dem Biertisch, inmitten all dem anderen Krempel. An Shayans verhal- tenem Schmunzeln in Anbetracht meines Optimismusses, konnte ich erkennen, dass mir wohl ein Fehler unterlaufen war. Ich ahnte bereits das Problem und presste, mit einem leichten Anflug von Panik in der Stimme heraus: „Sag mir nicht, dass das Ding Türkis ist.“ Diese Befürchtung hatte ich nämlich schon in der Nacht zuvor gehabt und dementsprechend den ganzen Baum mit einem leichten rötlichen Film überzogen, um der augenscheinlich türkisen Färbung entgegen zu wirken. „Andrew!“ prustete Shayan heraus „Der Baum ist Lila!“

11:17 Uhr: Eine kurze Krisensitzung und einen Provianteinkauf später fuhren wir
auf einer engen Münchener Straße in Richtung Künstlerbedarf, unsere ersten Adres- se heute. Hatte ich außerdem schon erwähnt, dass Shayans Auto so groß ist, dass es in den Fahrzeugpapieren als LKW bezeichnet wird? Nun, bei einem Gefährt dieser Größe kann man schon mal den Überblick verlieren… „Ratsch!“ Ich schaute aus dem Fenster. Die an der Seite geparkten Fahrzeuge waren uns erschreckend nah gekom- men, oder war es anders herum? „Ratsch! Bang!“ Ich sah wie der Außenspiegel des neben uns geparkten Autos sich aufgrund einer Kollision mit unserem in seine Be- standteile zerlegte.
11:20 Uhr: Wir standen am betroffenen Wagen und sahen, dass bei diesem Spiegel wohl nichts mehr zu machen ist. Mein geschätzter Fahrer und Regisseur hinterlegte seinen Namen und Telefonnummer. Auf mein vehementes Verneinen hin, verwirft er den Gedanken, sich bei der Polizei zu melden. Das sei absolut unnötig, was sollten die denn da machen können? verkündete ich im Brustton der Überzeugung.

Wir hatten knapp drei Stunden im Gaerstecker-Markt zugebracht und einen riesen Haufen Papier und anderen Krimskrams gekauft. Zurück im Auto wurde erst einmal gevespert. Shayans Handy klingelte, der Geschädigte vom Morgen war dran und hatte uns informiert, dass es absolut unerlässlich sei, bei einem jedwedem Unfall umgehend die Polizei zu rufen, andernfalls könne man wegen Fahrerflucht angeklagt werden. Shayan kurz darauf also mit dem Handy am Ohr und in einer Polizei-Warteschlange – uns war beiden nicht bewusst gewesen, dass es so etwas überhaupt gibt.

15:47 Uhr: Es tutet. „Polizeidienststelle München“ meldete sich der Beamte. Shayan beschrieb, nicht zum letzten Mal an diesem Tag, was geschehen war, insgesamt sprach er mit drei Leuten, bis er endlich bei der zuständigen Polizistin angekommen war.

Auf die Frage, wo wir jetzt seien, konnten wir nur eine ungenaue Antwort geben; die Frage, warum wir nicht dageblieben waren, konnte überhaupt nicht zufriedenstellend beantwortet werden und die Frage, wie lange wir zurück zum Ort des Geschehens bräuchten, beantwortete Shayan mit einer halben Stunde, wenn wir sofort losführen. „Ne, Sie müssen schneller da sein“ behauptete die Frau am anderen Ende schroff. Wir blickten uns an, ich schmunzelte. „Ähm, naja, das geht aber schlecht“ meinte Shayan zaghaft, „Da wir eine halbe Stunde hier her gebraucht haben, werden wir wohl auch eine halbe Stunde zurück brauchen.“ Darauf die Polizistin: „Also gut, dann geben Sie mir bitte jetzt erst mal ihre Personalien durch, beginnen wir mit Namen und Num- mernschild.“ Shayan: „Ja. Klar. Kein Problem. Also: Siegfried, Heinrich, Anton…“
Ich konnte nicht mehr an mich halten und kicherte los, ein verzweifelter Blick von Shayan, der bereits seinen Nachnamen buchstabierte. „Heinrich, Emil“ Ein in den Hemdsärmel gepresstes Lachen von Shayan. Kaum hörbar und eine Oktave zu hoch ein gequietschtes „Kevin“ und so weiter. Die Situation war der glücklichste Moment in meinem bisherigen Tag, Shayan, der höfliche und sehr schuldbewusste Mann hysterisch kichernd am Telefon mit einer verärgerten Polizeibeamtin.

Wir mussten dann doch nur auf die Wache, Papiere vorzeigen, und wurden mit einem blauen Auge in die Freiheit entlassen. Also ab zum Bauhaus. Bis Ladenschluss waren wir in dem Geschäft. Um 19:59 Uhr rannte ich noch einmal quer durch das Gebäude, jedem Mitarbeitenden an dem ich vorbeikam, hechelnd versichernd, dass ich sofort wieder weg sei und nur schnell noch eine Kleinigkeit bräuchte – finstere Gesichter säumten meinen Lauf.

22:11 Uhr, zurück in der Gabrielenstraße: Alles war ausgeladen und verstaut, wir saßen zusammen und aßen, Leon hatte auf uns gewartet und gekocht. Ein verrückter Tag neigte sich dem Ende zu. Zumindest für die anderen beiden, jetzt, wo das Material da war, konnte mich nichts mehr davon abhalten, bis etwa 8 Uhr am nächsten Morgen weiter zu arbeiten. Todmüde fiel ich ins Bett.

Ein entscheidender Moment war der eingangs beschriebene Morgen und seine Fort- setzung. Das Problem war, dass ich das Design der Wand, also die Tapete des warmen Zimmers auf eigene Faust so umgesetzt hatte. Abgemacht war gewesen, eine einfarbig braune Wand als Hintergrund zu nehmen. Für mich war die Tapete ein eindeutiger Gewinn, nicht aber für Shayan. Seine anfängliche Kritik stieß bei mir auf eine Mauer des Unverständnisses. Gekrängtes Ego brodelte in mir hoch, da wollte ich einmal im- provisieren, mich nicht an das Abgemachte halten und selbstständig eine Prise Salz in die Suppe geben und schon…! Naja.

Wir hatten einen handfesten Streit, der weit über den eigentlichen Sachverhalt hinausging und plötzlich von sehr persönlicher und grundsätzlicher Natur war. Ich bin es nicht gewohnt, im Team zu arbeiten, noch nie musste ich meine Entscheidungen
vor irgendjemandem außer mir selber rechtfertigen. Das wird wohl auch der Grund sein, warum es mir bitter aufstößt, eine meiner Ideen als „nicht ins Konzept passend“ beschrieben zu sehen. Nun ist es aber natürlich so, dass Shayan, als Regisseur den besseren Überblick über den Film und noch dazu das letzte Wort hat. Bei einer jeden Entscheidung muss er den Gesamtkontext der Produktion im Auge behalten, während ich nur der Wirkung im Augenblick und dem kleinen Kosmos des Märchens verpflich- tet bin. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass er Farben und ihre minimalsten Unterschie- de präzise auseinanderzuhalten in der Lage ist, ich hingegen stolzer Musterkandidat einer Rot-Grün-Schwäche bin, was unsere Differenzen bei Farbgebungsfragen bereits erahnen lässt. Wir einigten uns schließlich auf ein lasierendes Übermalen der Tapete, sodass diese an einigen Stellen noch durchschimmerte, sie aber weniger an einen englischen Teesalon erinnerte.
Bei weiteren Fortschritten in Sachen „Tee hilft immer“, werde ich hier darüber berichten.

2 Kommentare

  1. Nicklas Menzing

    Was ist eigentlich aus dem Projekt geworden?
    LG

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    • Andrew Friedrich

      Das ist ein sensibler Punkt Nick:) ich glaube es läuft noch, leider derzeit ohne mein involviert sein…

      Antworten

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